Stenografie: Warum im nordrhein-westfälischen Landtag die Kunst der Kurzschrift ausstirbt

Stand: 17:04 Uhr Thilo Rörtgen an seinem Arbeitsplatz im Landtagsplenum Thilo Rörtgen an seinem Arbeitsplatz im Landtagsplenum Quelle: Silvia Reimann Hier können Sie unsere WELT-Podcasts hören Um eingebettete Inhalte anzuzeigen, ist deine widerrufliche Einwilligung in die Übermittlung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten notwendig, da die Anbieter der eingebetteten Inhalte als Drittanbieter diese Einwilligung verlangen [In diesem Zusammenhang können auch Nutzungsprofile (u.a. auf Basis von Cookie-IDs) gebildet und angereichert werden, auch außerhalb des EWR]. Indem du den Schalter auf „an“ stellst, stimmst du diesen (jederzeit widerruflich) zu. Dies umfasst auch deine Einwilligung in die Übermittlung bestimmter personenbezogener Daten in Drittländer, u.a. die USA, nach Art. 49 (1) (a) DSGVO. Mehr Informationen dazu findest du hier. Du kannst deine Einwilligung jederzeit über den Schalter und über Privatsphäre am Seitenende widerrufen. Podcast freigeben Thilo Rörtgen ist Landtagsstenograf. Dort protokolliert er die Reden der Abgeordneten. Doch seinen Beruf wird es wohl nicht mehr lange geben. Was er kann, will heute kaum noch jemand lernen. Anzeige Anzeige

Der Mann, dessen Beruf bald ausstirbt, betritt beinahe unbemerkt den Saal. Er geht vorbei am Rednerpult und der 13-fachen nordrhein-westfälischen Landesflagge dahinter. Sein Ziel ist der Tisch vor Innenminister Herbert Reul (CDU). Dort haben zwei Männer ihre Laptops vor sich aufgeklappt. Er setzt sich zwischen sie, tippt einem von ihnen auf die Schulter. Vor sich legt er einen Block und einen Kugelschreiber. Mehr braucht er nicht, um seinen Beruf auszuüben.

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Thilo Rörtgen und seine Kollegen sind häufig im Fernsehen zu sehen. Doch kaum jemandem fällt das auf. Wenn eine Parlamentsdebatte gezeigt wird, ist das Stenografenpult meist auch im Bild. Es liegt im Mittelpunkt des Geschehens. „Wir wollen aber übersehen werden“, sagt Rörtgen.

Die Kurzschrift, die er beherrscht, wird heute fast nirgendwo mehr gebraucht. Vorbei sind die Zeiten, als Stenografen bei Zeitungen, in Gerichtssälen und zahlreichen Büros arbeiteten. Heute ist Rörtgen einer von drei Menschen, die in Nordrhein-Westfalen noch festangestellt stenografieren. Die jüngere seiner beiden Kolleginnen ist wie Rörtgen Anfang 50. Wenn sie einmal in Rente gehen, geht ihr Berufsstand wohl gleich mit.

Siebeneinhalb Minuten schreibt der Stenograf im Landtag mit, dann wird gewechselt Quelle: Silvia Reimann Anzeige

Siebeneinhalb Minuten. So lange dauert ein Einsatz eines Stenografen im Parlament, so ist es im Ablauf festgelegt. Danach muss Rörtgen den Aufzug nehmen, hinunter in den Keller des Landtags. Dort liegt sein Büro. Der Ort, an dem der Hauptteil seiner Arbeit stattfindet. Eineinhalb Stunden hat er nun Zeit, um sein Stenogramm in ein fertiges Protokoll umzuwandeln. Dann ist wieder das Plenum an der Reihe. Es geht nicht darum, das Gesagte genau wiederzugeben, jedenfalls nicht nur. Sondern auch darum, es lesbar zu machen.

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Ergebnisse dieser Arbeit hört Rörtgen manchmal in den Nachrichten, die scheinbar die Politiker, aber eigentlich doch sein Protokoll zitieren. „Schön, dass meine Formulierung drin ist“, denke er sich dann. Weil drei Stenografen viel zu wenig Personal sind für all die Landtagsdebatten, die Ausschuss- und Untersuchungsausschusssitzungen, mussten sie in Düsseldorf reagieren. Denn Menschen wie Rörtgen, die gab es nicht mehr. Also wie ihn schon gar nicht. Denn bevor er im Landtag arbeitete, war er „auf der Zeche, unter Tage“, wie er mit dem hörbaren Ruhrpott-Akzent des gebürtigen Bottropers sagt.

Doch nicht nur die gelernten Elektriker wie er, auch die Germanisten und Geisteswissenschaftler, die in seinem Beruf üblicher sind, interessierten sich nicht mehr für die Stenografie. 1998, als Rörtgen seine Ausbildung begann, hatte er noch auf einen Platz warten müssen. Später gab es viele freie Plätze, nur keine Bewerber.

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Rörtgens Kollegen, das sind heute zum Großteil Menschen wie Carolin Rosendahl. Der Landtag nennt sie Audioredakteure, und sie haben statt Block und Stift im Parlament immer einen Laptop dabei. Das Band läuft nun eh mit, und wenn etwas abseits des Rednerpults geschieht, was im Nachhinein nicht zu hören ist, dann tippen sie das mit. „Wir kommen auf unterschiedlichen Wegen zum gleichen Ergebnis“, sagt Rosendahl. Nur wenn der Strom ausfalle, dann sei Rörtgen natürlich im Vorteil.

Gründe für den Niedergang der Stenografie gibt es viele. Der größte ist wohl die Digitalisierung. Wer braucht noch jemanden, der schnell und sauber mitschreibt, wenn alles problemlos aufgezeichnet werden kann. Wie viele Menschen in Deutschland heute noch stenografieren können, weiß nicht einmal die Präsidentin des Deutschen Stenografenbundes ganz genau. „3000 bis 4000 sind es bestimmt noch“, sagt Regina Hofmann. Sicher ist jedoch, dass kaum Kinder und Jugendliche darunter sind. Der Zeitgeist sei nicht auf ihrer Seite, sagt die 68-Jährige. Schulen bieten keine Kurse mehr an, die nötige Geduld fehle den Generationen nach ihr ohnehin. „Es kostet schon einiges an Mühe, Steno zu lernen.“

Damals, da war das noch anders. Hofmann hat ihr Steno in der ehemaligen DDR gelernt, ihr Vater hat es dort unterrichtet. Auch Rörtgens Vater kann stenografieren, ebenso sein Bruder. Der arbeitet sogar im Bundestag. Gemeinsam sind die beiden vergangenes Jahr Deutsche Mannschaftsmeister geworden. An Christi Himmelfahrt treffen sich immer die Stenografen des Landes zu einer Art Klassentreffen mit Wettbewerben. Organisiert von Regina Hofmann. Die schnellsten und fehlerfreisten Schreiber gewinnen dann die Titel. 475 Silben pro Minute hat der Beste von ihnen dieses Mal geschafft.

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Mittlerweile spielt es nur noch im Bundestag eine Rolle, wer stenografieren kann und wer nicht. Wer dort Teil der Sitzungsdokumentation sein will, muss die Kurzschrift nach wie vor beherrschen. In allen anderen Parlamenten arbeiten entweder nur Audioredakteure oder es gibt noch Stenografen-Urgesteine wie in Düsseldorf. Gesucht werden sie aber nicht mehr. „Dass diese anspruchsvolle Technik nicht mehr so häufig praktiziert wird, ist natürlich zu bedauern“, teilt ein Sprecher des Landtags auf Anfrage mit.

Rörtgen spricht also nur noch für eine kleine Minderheit, wenn es darum geht, was für den Stenografen eine gute Rede ausmacht. Es ist das Gegenteil dessen, was sich wohl die meisten Zuhörer wünschen. Gut ist: Sprechzettel vorlesen, viele Floskeln, wenig rhetorische Ambition. Schlecht ist: freie Rede, schnelles Sprechen, kreative Wortfindung. Alles viel mehr Arbeit. „Joschka Fischer konnte man super zuhören“, sagt Rörtgen. Aber um dessen freie Rede lesbar zu machen, sei ein Bürotag manchmal zu kurz.

Überhaupt, die Abgeordneten. Die sprechen heute lebendiger und schneller als damals, vor 25 Jahren. Pro siebeneinhalb Minuten schreibe er nun eine Seite mehr mit. Für den Außenstehenden ist es schwer festzumachen, was der Welt fehlen wird, wenn die Stenografie einmal ausstirbt. Der weiß nicht, wie schnell so ein Einkaufszettel geschrieben werden könnte. Stenografieren kann wohl Demenzerkrankungen verzögern. Zumindest besagt das eine Studie. Der größte Reiz ist aber vielleicht das Verborgene daran. Das, was Regina Hofmann „Geheimschrift“ nennt. Eine Sprache zu beherrschen, die nur Eingeweihte entziffern können.

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In seinem Büro gibt Rörtgen einen kurzen Einblick in diese geheime Welt. In die Zeichen für Buchstaben, die Kürzel für Wörter und ganze Redewendungen. Auf einen Zettel malt er dabei eine kleine „1“, darunter setzt er einen Punkt. „Ich stehe auf dem Standpunkt“, heißt das. Auch für die „Europäische Union“ und „Die Außen- und Sicherheitspolitik“ gibt es solche Kürzel. „Und so kommt man dann natürlich auch hinterher“, sagt Rörtgen.

Im Plenum, am Tisch vor Herbert Reul, wird es bald leerer. Der Kollege links von Rörtgen ist fertig, der rechts übernimmt. Thilo Rörtgen wirkt nun wie ein Pferd, kurz vor dem Rennstart. Er hält seinen Kugelschreiber in der rechten Hand und dreht ihn pausenlos mit seiner linken. Dann kommt das Kommando. Rörtgen schreibt. Und schreibt.

Aber es sieht doch nicht aus wie klassisches Schreiben. Es wirkt wie eine Choreografie. Flüssig, und doch irgendwie abgehackt. Wenn die Rednerin am Pult pausiert, dann pausiert auch Rörtgen. Wenn es Applaus gibt, wandert sein Blick durch den Saal. Siebeneinhalb Minuten lang, dann ist alles vorbei. Jedenfalls für ihn.

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